Ein Gastbeitrag von Marion Ibetsberger, Framechangers, Wien
Ich bin Unternehmensberaterin. Genauer gesagt begleite ich Führende und Führungsteams in ihrer Entwicklung. Mit systemisch-dialogischen Landkarten im Hintergrund und entsprechender Methodik gestalten wir Framechangers – das ist der Name meines Teams – Lern- und Erfahrungsräume, die persönliche und kollektive Reifeprozesse anstoßen.
Wie viele andere auch haben wir uns ausführlich mit den Systemiker:innen und Dialogiker:innen unserer Zeit beschäftigt, den Aufstieg von Otto Scharmer und der Theory U mitgefeiert, Ken Wilber studiert, selbst meditiert und spirituelle Erfahrungen in den unterschiedlichsten Schulen gesammelt. Wir arbeiten mit Aufstellungstechniken und Embodiment, wir führen Dialoge, wir sprechen über und befördern vertikale Entwicklung … also ich denke, Sie bekommen langsam ein Bild, das nicht nach weiterer Vertiefung fragt. Vermutlich sind Sie selbst ein*e Weggefährt*in in diesem Feld des Wandels und Wachstums und leisten auf Ihre Art einen Beitrag zu neuen Lösungen, die wir als Gesellschaft und Welt dringend brauchen.
Was mich dazu bewegt, meine Erfahrungen im Feld der Führungskräfteentwicklung zu teilen, ist nicht der Glaube, auf den die neuesten oder geistreichsten Gedanken zu sitzen. Ich verstehe mich als Praktikerin. Als jemand, der durch sein in der Welt sein einen Unterschied macht. Und zwar dort, wo er am meisten gebraucht ist. Wenn wir scheitern, vor allem kollektiv, dann selten, weil uns das notwendige Wissen gefehlt hat – mehr, weil wir es nicht zur rechten Zeit am rechten Ort geschafft haben, es auch auf die Straße zu bringen.
Es ist uns im Zusammenhang mit Vorträgen an Universitäten oder auf Konferenzen des Öfteren passiert, dass Menschen Tränen der Berührung in den Augen hatten, wenn wir von unserer Arbeit und unseren Zugängen berichten. Nicht etwa, weil wir etwas so Außergewöhnliches machen, sondern weil wir es dort machen, wo man es vielleicht weniger vermuten würde.
Unsere Kunden sind zu einem Großteil Großkonzerne aus der Automotive Industrie, über Generationen gewachsen, hoch komplex in den Lieferketten, noch oftmals männerdominiert. Hier herrscht kein Wunschkonzert der Selbstverwirklichung. Wir sprechen von Unternehmen mit einem Management, das Verantwortung für Tausende Beschäftigte trägt und neben zukunftsfähigen Lösungen im Großen täglich an den wirtschaftlichen Ergebnissen gemessen wird. Und gerade dort sind wir als Frauenteam eingeladen, einen Unterschied zu machen. Gerade dort ist die Nachfrage groß, zum zermarterten Hirn und der vorschnellen Hand auch das Herz an Bord zu holen.
Ob als Führungskraft, Mitarbeiter*in, Berater*in oder einfach „nur“ Mensch – wir alle kennen den Unterschied zwischen: „Ich sollte/müsste/könnte …“, Botschaften, die uns der Verstand schickt, und: „Ich sehne mich nach …“, also dem Herz, das zu uns spricht. Wenn wir Changeprozesse in Unternehmen begleiten, dann werden wir geholt, um Hoffnung und Zuversicht ans Licht zu befördern. Um kräftige Visionen zu entwickeln. Um Menschen emotional abzuholen, einzubinden, Schmerzpunkte und Ängste empathisch zu benennen und zu erkunden. Auch gilt es, die rosa Elefanten im Raum radikal ehrlich und wertschätzend auf ihre berechtigten Plätze zu verweisen und frei von Urteil, Angst oder Ohnmachtsgefühl mutige Entscheidungen zu treffen und in gute Schritte zu überführen.
Irgendwo zwischen der Industrialisierung und der Entwicklung der künstlichen Intelligenz sind wir falsch abgebogen und haben, auch in der Managementlehre, begonnen, unsere Ratio über andere menschliche Bedürfnisse und Ressourcen zu stellen. Emotionen galten eher als fehl und hinderlich am Arbeitsplatz.
Aber gerade jetzt im Zeitalter der Digitalisierung, mit dem Vormarsch der Künstlichen Intelligenz, und vor dem Hintergrund von Generationenerwartungen und Bedürfnissen, die sich durch Diversifizierung der Gesellschaft verändert haben, zeigen sich linear gedachte Modelle und rein verstandesgetriebene Qualitäten nicht mehr als alleinig erfolgsversprechend. Sie bieten keine Antwort auf Probleme der immer komplexer werdenden Unternehmen, einer VUCA-Welt. Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity stehen für die Herausforderungen, mit denen sich ein Unternehmen auseinandersetzen muss, wenn es in einer zunehmend digitalen und globalen Welt erfolgreich sein möchte. Und noch wichtiger, wenn es künftig als Unternehmen nicht ohne Führungskräfte (Stichwort: Führungsscheu) und ohne Mitarbeiter:innen (Stichwort Arbeitgeberattraktivität) dastehen möchte!
Soweit, so einleuchtend. Aber wie kommen wir jetzt dorthin?
Die Antwort ist in einem ersten Schritt: WIR gar nicht, SIE! Ganz wie im Flugzeug mit der potenziell angebotenen Sauerstoffmaske ist erstmal Selbstfürsorge angesagt. Insideout – Entwicklung von Innen nach Außen – sozusagen.
Wer Emotionen als evolutionär wesentliche menschliche Ressource nicht länger brach liegen lassen, sondern als Quelle der Information, Wirksamkeit und Beziehungsstiftung nutzen möchte, übe in so vielen Situationen und Kontexten wie möglich emotionale Intelligenz. Dazu beschrieben Salovey & Mayer sowie Goleman bereits in den 1990er Jahren einige zu kultivierende Kernaspekte, die man wie folgt zusammenfassen kann:
- Selbstwahrnehmung & Erkennen der eigenen Emotionen: Sprache ist Verstand gefiltert, Gefühle sind die gekoppelte Sprache des Körpers. Welche Gefühle bringen bestimmte Gedanken oder Situationen in mir hervor? Achtsamkeitspraxis, das Einladen des Verstandes in die freundliche Beobachter:innenposition, die eine oder andere kurze Pause, um Raum zwischen Reiz und Reaktion zu bringen, machen hier den Unterschied.
- Emotionen als hinweisgebende Ressource benennen: Aufbauend auf die Wahrnehmung geht es hier darum, den Sinn bzw. die evolutionäre Botschaft der Emotion zu entschlüsseln. Während ein Freezing-Zustand (im Alltag oft als übermäßige Müdigkeit angezeigt) vor etwas schützen oder Angst vor unangenehmen Konsequenzen bewahren will, will Wut Energie für kräftige Handlungen aktivieren. Trauer lädt dazu ein, gebundene Energie durch Akzeptanz eines nicht gewünschten Zustandes loszulassen und weiterzugehen. All diese Zustände, wenn richtig erkannt, sind wertwolle Hinweisgeber, Energiequellen, Handlungsunterstützer.
Alleine das Benennen der Funktion der Emotion bzw. des Bedürfnisses, auf das die Emotion hinweist, kann schon ausreichen, um sie wieder ziehen zu lassen. - Emotion in Handlung einbeziehen: Selbstwirksamkeit und Selbstregulation sind hier die Zauberwörter. Emotion als Information in die Verhaltenswahl miteinzubeziehen oder gar als Motor zu nutzen, ohne sich davon reiten zu lassen, ist die Kunst, die es in einem weiteren Schritt zu üben gilt. Oftmals fallen uns Emotionen im Zusammenhang mit unbefriedigten Bedürfnissen auf. Diese zu erkennen und für die eigene Bedürfnisbefriedigung auch Verantwortung zu übernehmen, indem wir unser Handeln entsprechend ausrichten, macht uns effektiv und produktiv.
- Empathie und mit Emotionen anderer umgehen: Empathie ist unsere menschliche Fähigkeit, sich in die Gefühle anderer hineinversetzen zu können (Achtung: ohne sich damit zu identifizieren!). Ich kann mich also sprichwörtlich in die Schuhe des anderen stellen und bin mir immer noch bewusst, es sind nicht meine Schuhe. Diese Fähigkeit, gerade in Führung, ist Basis jeder tragfähigen Beziehung und des sich aufeinander Beziehens. Das Zurverfügungstellen der eigenen Emotionen, am besten als selbstoffenbarende Wahrnehmung, und das Einladen und Anerkennen anderer Emotionen ist ein guter Nährboden für integrative Entscheidungen.
Captain der Enterprise ist James T. Kirk, nicht der ausschließlich rational denkende Vulkanier Spock. Es ist jedoch nicht so, dass Captain Kirk beim Navigieren des Raumschiffes durch unbekannte Welten und unsichere Terrains nicht denkt. Vielmehr stellt er seinem Wissenschaftsoffizier und überlegenen Denker Spock die richtigen Fragen, um dann – unter Einbezug seiner menschlich-emotionalen Resonanz darauf – eine finale Entscheidung zu treffen.
Auch in Bezug auf Führungsqualitäten war der Schöpfer des Raumschiffes Enterprise, Gene Roddenberry, also zukunftsweisend: Für erfolgreiches Handeln unter VUCA-Bedingungen müssen ein klarer Verstand und ein kultiviertes Herz Hand in Hand gehen.
Über die Autorin: Marion Ibetsberger, Senior Expert bei Framechangers, begleitet (Führungs)teams und Organisationen durch Change- und Entwicklungsprozesse ((1) Marion Ibetsberger | LinkedIn)
Quellenverweise:
Salovey, P., & Mayer, J. D. (1990). Emotional intelligence. Imagination, cognition and personality, 9(3), 185-211.
Goleman, D. (1995). Emotional intelligence: Why it can matter more than IQ. Bantam.
Quelle für das Beitragsbild: https://en.wikipedia.org/wiki/Star_Trek#/media/File:Leonard_Nimoy_William_Shatner_Star_Trek_1968.JPG