Nach den Streiks bei der Bahn erleben wir jetzt die ersten Arbeitskampfmaßnahmen bei den Flughäfen, bei der Lufthansa und im öffentlichen Nahverkehr. Alles Tarifbereiche im Verkehrssektor, bei denen die Kunden kaum Ausweichmöglichkeiten haben und indirekt hohe Kosten für die Wirtschaft entstehen. Der Streik der GDL im Güterverkehr kostet die deutsche Wirtschaft schätzungsweise 100 Millionen pro Tag, weil Lieferketten unterbrochen werden und Produktion ausfällt. Bei Bahn und Lufthansa haben wir zudem besonders harte Auseinandersetzungen in Tarifbereichen mit konkurrierenden Gewerkschaften.
Die Rituale von Tarifauseinandersetzungen
Mein erster Vorgesetzter hat mir nach meiner Erinnerung in der ersten Arbeitswoche erklärt, warum Tarifverhandlungen ein langsames Annäherungsverfahren sind, bei dem in den ersten Runden von beiden Seiten unrealistische Angebote und Forderungen ausgetauscht werden. Versuche, die Verhandlungen durch höhere Einstiegsangebote zu beschleunigen, hätten seiner Erfahrung nach immer zu teureren Abschlüssen für die Arbeitgeber geführt. „Hast du Zeit oder hast du Geld“, so hat es ein Kollege einmal formuliert. Außerdem haben wir inzwischen eine Streikkultur erreicht, bei der die GDL nach der ersten Verhandlungsrunde – trotz Angebot des Arbeitgebers – einen ganztägigen Warnstreik ausruft und ohne Scheitern der Verhandlungen 6 Tage Arbeitskampf. Von diesem ersten Chef hatte ich auch gelernt, dass Arbeitskämpfe das letzte Mittel (Ultima Ratio) sein sollen. Davon sind wir heute weit entfernt.
Alternativen der Konfliktlösung
Vor einigen Wochen hatte ich auf LinkedIn eine Umfrage gestartet, ob es heute noch Streiks braucht, um gewerkschaftliche Interessen durchzusetzen, oder ob wir nicht in einer Arbeitswelt leben, in der man auch ohne solche Konfliktmittel auskommt und zu einer Lösung kommt. Das Stimmungsbild dieser nicht repräsentativen Umfrage war ausgeglichen. Genau 50/50.
Mein Thema in diesem Beitrag lautet: Gibt es nicht Alternativen zum Arbeitskampf und damit Wege, Konflikte zwischen den Tarifparteien zu regeln und gleichzeitig den Verhandlungsprozess zu beschleunigen?
Ein solches Instrument ist die Pendelschlichtung. Wie der Name schon sagt, handelt es sich um ein Schlichtungsverfahren, das zum Einsatz kommt, wenn sich die Verhandlungspartner nicht einigen können. Im Gegensatz zu den „traditionellen“ Schlichtungsverfahren mit einem moderierenden Schlichter unterbreitet der Schlichter keinen Schlichtungsvorschlag, sondern trifft eine Entscheidung für das eine oder das andere letzte Angebot. Der Schlichter fragt nach den letzten Angeboten/Forderungen und entscheidet sich dann für eine Option. Diese Entscheidung ist für beide Parteien bindend. Im englischen Sprachraum wird das Verfahren daher „Final Offer Arbitration – FOA“ genannt. Das Bild des Pendels veranschaulicht auch gut, dass die Schlichtung nur in die eine oder andere Richtung geht, ohne Zwischenlösungen.
Das Instrument gibt es in Tarifbereichen in den USA – öffentliche Angestellte in mehreren Bundesstaaten, UK, Neuseeland. Bekannt wurde es als Konfliktlösungsinstrument im amerikanischen Baseball. Es wird auch in Versicherungsstreitigkeiten eingesetzt.
Welche Rahmenbedingungen FOA braucht (woher kommen die Schlichter, wo sind sie „organisatorisch“ angesiedelt, welche Kompetenzen/Eigenschaften brauchen FOA-Schlichter, wie sehen die Schlichtungsordnungen dazu aus ….) erspare ich mir hier. Aber die Beispiele aus dem Ausland geben hier genügend Anschauungsmaterial.
Welche Wirkungen haben Pendelschlichtungen?
Aus spieltheoretischer Sicht hat die Pendelschlichtung folgende Effekte:
- Das Verfahren führt zu realistischerem Verhalten. Beide Parteien vermeiden zumindest in der Schlussphase überzogene Angebote/Forderungen, da der Schlichter das aus seiner Sicht realistischere Angebot wählt.
- Die Verhandlungsphasen verkürzen sich, da es nicht schädlich ist, frühzeitig realistische Angebote oder Forderungen zu stellen, da die Pendelschlichtung realistisches Verhandeln belohnt.
- Im Vergleich zur traditionellen Schlichtung ist das Verfahren kürzer. Außerdem verhindert die Pendelschlichtung, dass überzogene Verhandlungsstrategien in das Schlichtungsverfahren hineingetragen werden. Bei der „traditionellen“ Schlichtung ist zu beobachten, dass die Schlichter dazu neigen, einen Mittelweg zwischen Angebot und Forderung zu finden, so dass der Anreiz zu einer überzogenen Verhandlungsstrategie bestehen bleibt.
- Beide Parteien sind gezwungen, sich intensiv damit auseinanderzusetzen, welches Angebot, welche Forderung von Dritten als angemessen bewertet wird. Es zwingt beide zu einem Perspektivenwechsel, der auch einen fairen Verhandlungsprozess fördert.
- Es reduziert die Zahl der Schlichtungen, da die Verhandlungspartner das Ergebnis einer Pendelschlichtung scheuen. Die Parteien finden Lösungen am Verhandlungstisch.
Was sagt die Empirie dazu?
Die Analyse von Verhandlungen, Streitigkeiten bestätigt die oben genannten Effekte weitgehend. Eine Übersicht über Verbreitung der Pendelschlichtung und wissenschaftliche Analysen der Effekte liefert das Paper „Bilateral v Collective Bargaining and Arbitration Options“[1]. Metcalf und Milner haben die FOA dann als besser in der Abschreckung von Auseinandersetzungen bewertet, wenn vor der Schlichtungsspruch noch Mediationsprozesse vorgeschaltet sind. [2]
Der Booster-Vorschlag für Pendelschlichtungen
Der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahnemann und der Harvard-Professor Max H. Bazerman haben eine Variante der FOA vorgeschlagen, die den Verhandlungsprozess beschleunigen kann und den beide als Berater für einen Versicherungskonzern implementiert haben. [3] Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass beide Parteien zu jedem Zeitpunkt des Verhandlungsprozesses den Schlichter anrufen können, um eine Entscheidung herbeizuführen. Sie nennen das die Challenge-Strategie. In der Praxis analysiert dann eine Partei, die das Verfahren verstanden hat, genau, was als faires Ergebnis herauskommen sollte, und unterbreitet der anderen Partei ein realistisches Angebot, das dem als fair empfundenen Endergebnis nahekommt. Reagiert die andere Partei mit einer als unfair empfundenen Forderung, so ist zu fragen, ob sie das Angebot als fair empfindet. Wird dies bejaht, sollte die Schlichtungsstelle angerufen werden. Ist man sich sicher, dass das eigene Angebot fair ist, wird man sich durchsetzen. Das wiederum führt dazu, dass die andere Partei in der Regel das Schlichtungsverfahren vermeiden will und eine realistische Forderung unterbreitet – zumindest dann, wenn sie sich auch Gedanken darüber gemacht hat, wie ein faires Ergebnis aussehen könnte. Der Verhandlungsprozess führt schneller zu einem Ergebnis.
Die Challenge-Strategie beschleunigt somit den Verhandlungsprozess. Ein Nebeneffekt ist, dass die Partei, die das erste Angebot macht, als fairer Verhandlungspartner wahrgenommen wird.
Kahnemann/Bazerman sehen vier Bedingungen, unter denen die Challenge-Strategie sinnvoll ist:
- Ein angemessenes Angebot wird gemacht
- Ein unangemessenes Angebot wird erwidert
- Man kann einschätzen, was eine faire Lösung ist
- Eskalation wäre zu teuer
Für mich ist die Challenge-Strategie eine spannende Erweiterung des FOA-Konzepts. FOA und Challenge-Strategie könnten auch im deutschen Tarifsystem die ritualisierten Abläufe aufbrechen. Sie bieten beiden Seiten die Chance, gute und insgesamt ausgewogene Ergebnisse für ihre Mitglieder/Kunden zu erzielen. Für mich ermöglicht dies effiziente Verhandlungen auf Augenhöhe in einem Regime, das beiden Seiten gleiche Ausgangsbedingungen bietet.
Wie kann man dadurch Streiks vermeiden?
Die FOA vermeidet Streiks, wenn sich die Tarifparteien darauf verständigen, dieses Verfahren anzuwenden und auf Arbeitskampfmaßnahmen zu verzichten. Die Erkenntnis, dass es sich um ein faires, schnelleres und von einem fairen Miteinander geprägten Verfahren handelt, würde die in vielen Tarifbereichen immer noch gepflegten Streitrituale durchbrechen. Das wäre für mich eine gute Weiterentwicklung einer ernst genommenen Sozialpartnerschaft für die post-industrielle Arbeitswelt.
Darüber hinaus ist zu diskutieren, ob eine FOA-Schlichtung zusammen mit einem Arbeitskampfverbot auch vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden kann. Zwar gehört das Streikrecht zum Kernbereich der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie, auch wenn Art. 9 Abs. 3 GG das Streikrecht nicht explizit erwähnt. Aber auch dieses Grundrecht steht unter dem Vorbehalt höherrangigen Rechts, und Verfassungsrechtler argumentieren, dass das Streikrecht eingeschränkt werden kann, wenn Arbeitskämpfe das Gemeinwohl gefährden. Daneben ist zu berücksichtigen, dass mit den Pendelschlichtungen als Ersatz von Streikmaßnahmen die Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften in Verhandlungen nicht eingeschränkt würde.
Wie die verfassungsrechtliche Würdigung hierzu z. B. in Bezug auf die Tarifauseinandersetzungen bei der Deutschen Bahn ist, überlasse ich Ihrer Beurteilung. Die Kunden, die Wirtschaft würden es sicher begrüßen, wenn die Konfliktparteien freiwillig den Weg der FOA gehen würden. Die Bahn wäre wegen ihrer Bedeutung für das Gemeinwohl aus meiner Sicht ein guter Pilotbereich für Pendelschlichtungen, gerne mit dem Kahnemann-Booster.
[1] Dr Geoff Edwards and Jennifer Fish, Charles River Associates https://ecp.crai.com/wp-content/uploads/2020/08/Bilateral-v-Collective-Bargaining-and-Arbitration-Options-FINAL-2006….pdf
[2] Metcalf, D. and Milner, S. (1992), “Final Offer Arbitration in Great Britain: Style and Impact”, National Institute Economic Review, No. 142, pp. 75-87.
[3] https://hbr.org/2016/09/how-to-make-the-other-side-play-fair